Wir feiern die Demokratie, hinterfragen die Wahrheit und lassen das Theater sein.
Eine nicht weiter definierte Küstenstadt in Norwegen, die durch die Errichtung eines Kurbades zu Wohlstand gekommen ist. Eine Bürger:innenschaft, die es sich stolz mit und in jenem Wohlstand eingerichtet hat. Ein Stadtoberhaupt, das den erlangten Wohlstand gegen jede mögliche Gefährdung verteidigt. Ein Industrieller, ein Arbeitgerber (sic), der mit sich im Reinen ist, wenn er seine Abwässer ins Grundwasser ableitet. Eine Lokalzeitung, die der Wahrheit verpflichtet ist - wenn sie Auflage bringt. Und unser Protagonist, Doktor Stockmann, dessen Vermutung, das Wasser des Kurbades würde durch bauliche Mängel (und die örtliche Industrie) verschmutzt und die Gesundheit der Einnahmen bringenden Tourist:innen gefährden, durch ein von ihm angefordertes Gutachten bestätigt wird.
Alle sind einer, ihrer, bestimmten Wahrheit verpflichtet und haben keinerlei Zweifel, dass das, was sie für die Wahrheit halten, auch die Wahrheit ist. Unser Dr. Stockmann dagegen hat seine Ambivalenzen. Wichtig ist, dass die Wahrheit gesprochen werde, aber vor allem auch, dass man erkennt, dass er die Wahrheit spricht. Was wiederum zu verhindern scheint, dass derjenige, der ja nichts als die Wahrheit spricht, auch als jemand erkannt wird, der das tut. Ein Volksfreund kann so ganz schnell zum Volksfeind werden.
Demokratische Entscheidungen basieren darauf, so die Theorie, dass sie von mündigen Bürger:innen getroffen werden. Menschen allerdings, die mit der Komplexität der modernen Welt passiv resignativ überfordert sind, wollen sich nicht mehr erklären lassen, was gut für sie ist. Denn das glauben sie selbst am Besten zu wissen. Überhaupt ist ja nicht die bloße Information das Entscheidende. Sondern der Umgang damit. Die Einordnung. Der Kontext. Ein Fakt ist einfach nur ein Fakt. Das Wasser im Bad ist dreckig? Aha. Und nun?
„Ein Volksfeind“ ist eine Projektionsfläche. Denn dass Henrik Ibsen nicht bloß ein Stück über eine mehr oder weniger idyllische norwegische Kleinstadt und einen mehr oder weniger sympathischen Badearzt geschrieben hat, dürfte Zuschauenden selbsterklärend sein. Auch weil im Programmheft behauptet werden wird, dass ein 130 Jahre altes Stück wahlweise erstaunlich oder erschreckend aktuell sei und nichts an Wichtigkeit eingebüßt habe.
VOLKSFEIND(E) ist eine Versuchsanordnung, ein Laborexperiment, eine Übung in Wahrhaftigkeit. Eine Bürger:innenversammlung.. Gelebte Demokratie. Wem glauben wir was und warum eigentlich nicht? Wie durchbricht man die Unmöglichkeit eines liberalen aufgeklärten demokratischen konstruktiven gesellschaftlichen Diskurses, wenn man sich nicht vorher mindestens mal darauf einigt, worüber man denn eigentlich reden möchte? Gibt es so etwas wie ein objektivierbares Gemeinwohl abseits der ganz persönlichen Interessen? Sind Richtig und Falsch eine Frage der Moral, oder der Entscheidung?
Theater ist so ein schöner Ort, ein Ort der wohlige Bürgerlichkeit ausstrahlt, ein versichernder Ort. Ein Ort, der Fragen in den Raum wirft, die man auf dem Nachhauseweg dann beantworten kann. Ja, natürlich gibt es hier und da bestimmt auch Verbesserungspotential, im Theater, in der Gesellschaft, aber wir haben es doch gut hier. Und wer was anderes behauptet, der ist ein Volksfeind. Der will uns nur das Wahre, Schöne, Gute nehmen. Vor allem den Glauben daran, dass es das gibt. Das könnten wir beweisen. Wenn wir es könnten.
REGIE, TEXT & KONZEPT
Felix Bieske & Linus Koenig
MIT
Jochen Döring, Mara Haußler, Nora Kühnlein, Christoph Maasch, Julius Ohlemann, Sven Marko Schmidt und Léa Zehaf
MUSIK
Thomas Buchenauer
BÜHNE & KOSTÜME
Loriana Casagrande
ASSISTENZ
Mara Haußler
FOTOGRAFIE
Christian Schuller
Eine Koproduktion von Landungsbrücken Frankfurt mit Blasted Productions 2023